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Stille Schreie
Ich stehe vor An Huas Haus. Im Hof liegen Hunderte leerer Flaschen, halb unter dreckigem Schnee begraben, ein Überbleibsel ihres Mannes. Das Schlafzimmer ist seit drei Jahren unbenutzt. Durch die schmalen Fenster des großen Backsteinhauses mit ihren Eisengittern dringt kaum Licht herein. Man muss sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, ehe man die rissige Wand erkennt. Die grüne Bettdecke aus Satin liegt seit dem Vorfall säuberlich zusammengefaltet auf dem Bett. Über zehn Jahre hat hier das Intimste stattgefunden, was es im Leben zwischen Mann und Frau gibt. Hier ist es passiert.
Sie hat sich nie gewehrt, nur dieses eine Mal.
27 Mal hat sie mit dem Messer auf ihn eingestochen. In den Akten steht, dass überall Blut war, auf dem Boden, an den Wänden. Ein Polizist berichtete, der Mann sei, als er bereits tot war, noch mit einem Seil gefesselt worden. „Sein Körper war über und über mit Blut verschmiert und kaum wiederzuerkennen. Bei vielen Tötungsdelikten wird das Opfer mit einem Messerstich getötet. Aber ein Fall wie dieser ist selten.“ Die Augen des Toten seien weit aufgerissen gewesen, auf seinem Gesicht habe ein Ausdruck von Ungläubigkeit gelegen.
Der Wind bläst durch das leere Haus, es klingt, als würde das Haus schreien.
Als ich noch für die Nachrichtensendung „Oriental Horizon (东方时空)“ gearbeitet habe, las ich in einem Bericht der Gesellschaft für Rechtswissenschaft, dass unter den in China inhaftierten weiblichen Gewaltverbrechern extrem viele Frauen sind, die ihren Mann umgebracht haben. In manchen Regionen liegt der Anteil bei über 70%. Hinter jeder Zahl stecken Schicksale. Getötete Männer, Frauen, die zu oftmals schweren Strafen verurteilt wurden: Todesstrafe mit zweijähriger Bewährung, noch eine Todesstrafe mit zweijähriger Bewährung, lebenslänglich, lebenslänglich, lebenslänglich ...
Dieses Thema hat mich viele Jahre lang gefesselt.
Seit meinem Projekt „Das Trauma von Shuangcheng (双城的创伤)“ bin ich der Auffassung, dass das wahre Gesicht einer Gesellschaft in seiner kleinsten gesellschaftlichen Einheit darin zum Vorschein kommt, wie in den Familien miteinander umgegangen wird, nachdem die knarrende Tür ins Schloss gefallen ist.
Die Familie ist im Leben eines Menschen der Ort der größten Vertrautheit. Warum fügen Menschen einander so grausame Verletzungen zu? Die Frage stellen wir uns oft. Aber wie Ehrenburg schon sagte: „Der Stein ist nun mal da. Ich will, dass man ihn nicht nur bemerkt, sondern auch spürt.“
Ich möchte den Menschen spüren, auch wenn er innerlich zerrissen ist.
An Hua kann sich nicht mehr an den Moment erinnern, in dem sie ihren Mann getötet hat. „Fünf Jahre ist es her, seitdem versuche ich immer wieder, mich zu erinnern, aber es geht nicht“, sagt sie. Die Fassungslosigkeit steht ihr ins eckige Gesicht geschrieben.
Sie trägt blau-
Damals hat sie sich nicht gewehrt.
Zwanzig Jahre lang ist sie geschlagen worden, zwanzig Jahre lang hat sie es ertragen. Sie wisse nicht, wie sie es schließlich geschafft habe, ihn zu töten, wie sie 27 Mal habe zustechen können. Sie habe eine große Lücke in ihren Erinnerungen. „Vielleicht bin ich einfach durchgedreht.“ An Hua spricht ganz ruhig. Vor Gericht hat sie nichts zu ihrer eigenen Verteidigung vorgebracht.
Über 700 Bewohner ihres Dorfes haben damals ein Gesuch unterschrieben, in dem sie das Gericht baten, An Hua nicht zu verurteilen. Auch die 80-
Als ich sie frage: „Hat er Sie auch geschlagen?“, antwortet sie: „Wenn er getrunken hatte, machte er vor niemandem Halt. Dann griff er zum Messer und wütete die ganze Nacht.“
Xiao Dou erschlug ihren Ehemann mit einer Eisenstange. Ein Schlag auf den Kopf, nur ein einziger Schlag. Ihr Mann wich nicht einmal aus, offenbar hatte er überhaupt nicht damit gerechnet.
Sie wurde zum Tode auf Bewährung verurteilt und hat bereits acht Jahre verbüßt, doch sie kann immer noch nicht glauben, dass er tot ist. Ihr spitzes Gesicht ist blass, die schräg stehenden Augen klein. Beim Sprechen schüttelt sie den Kopf, als wäre sie irre geworden, und sagt: „Er kann nicht tot sein.“
Verblüfft frage ich: “Was?“
„Er hat mich doch noch gar nicht getötet. Erst wenn ich tot bin, kann er sterben. Aber ich lebe noch, wie kann er dann tot sein? Ich glaube nicht, dass er tot ist.“
Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie mit ihm verheiratet wurde. Bei ihrer ersten Begegnung starrte er sie mit weit aufgerissenen Augen an und fragte: „Heiratest du mich?“ Vom ersten Augenblick an hat sie Angst vor ihm gehabt. „Immer wenn er nach Hause kam, taxierte er mich mit prüfenden Blicken. Er verbot mir, mit anderen Männern zu sprechen, auch mit Frauen durfte ich nicht sprechen, er verbot mir sogar, mit meiner eigenen Familie zu reden. Immer befürchtete er, die anderen Leute würden mich gegen ihn aufhetzen. Und dann hat er mich geschlagen.“
„Womit?“
„Mit einem Ledergürtel oder mit einem Schuh. Wenn ich nicht tat, was er wollte, fesselte er mich und schlug mich mit dem Ledergürtel.“
Der Ledergürtel peitschte auf die nackte Haut. Er hatte sie irgendwo aufgehängt, sie drehte und wand sich, so dass er nur ihren Rücken traf. Sie bemühte sich, nicht zu schreien, damit die Nachbarn sie nicht hörten und nicht über sie lachten. Nie schlug er ihr ins Gesicht, er schlug sehr überlegt zu, es waren lange Nächte.
In den acht Jahren, in denen sie verheiratet waren, trug sie nie kurzärmelige Kleidung. Sie wollte nicht, dass andere ihre Verletzungen sahen. Am meisten Angst machten ihr nicht die Schläge, sondern dass sie nicht wusste, wann sie kamen. Einmal wachte sie mitten in der Nacht auf, weil sie am Hals etwas Kaltes spürte. Er hatte ihr ein Messer an den Hals gelegt und riss sie an den Haaren nach hinten, bis ihr Hals frei lag. Sie konnte nur die Zimmerdecke anstarren, konnte nicht schreien, nur noch ihren Speichel hinunterschlucken und sich fragen, ob er zustechen würde.
„Oder er gab mir ein Fläschchen mit Medizin und sagte: ‚Trink‘.“
„Und es gab keinen Anlass dafür?“ frage ich.
„Er sagte, das würde mich nichts angehen. Ich sei erwachsen geworden, deshalb müsste ich sterben.“
Sie hob den Kopf und fragte mich mit leerem Blick: „Muss ich sterben, nur weil ich erwachsen geworden bin?“
Eine Frage beschäftigte mich sehr. Ich zögerte, denn hinter der Kamera stand ein Kollege, doch schließlich stellte ich sie: „Hattet ihr in den Jahren, in denen ihr verheiratet wart, ein normales Eheleben?"
„Darüber will ich nicht reden, das schmerzt zu sehr.“
„Stell mir dazu keine Fragen, das tut zu weh.“
Elf Frauen gaben nahezu die gleiche Antwort.
Chen Min, eine gerade aus Kanada zurückgekehrte Medizinerin, begleitet mich. Von ihr erfahre ich, dass alle Frauen, mit denen sie in Berührung gekommen ist, und die auf die Gewalttätigkeiten mit Gewalttaten reagiert hätten, „ausnahmslos Opfer sexueller Misshandlungen gewesen waren." Was man bei diesen Misshandlungen nicht aushält, sind nicht die körperlichen Verletzungen, sondern wie es Yan Qing ausdrückt: „Er demütigte mich.“
Ich wollte keine näheren Details wissen und fragte nur: „Mit Gemeinheiten?“
„Ja“, erwidert sie mit Tränen in den Augen
An diesem Punkt fangen sie alle an zu weinen, weinen still vor sich hin. Ein Weinen, das sie sich in ihrem langen Eheleben angewöhnt hatten. Auch nach mehr als zehn Jahren gelingt es ihnen nicht laut zu weinen, selbst wenn sie es wollten.
„Diese Frauen sind doch zu dumm. Sie könnten ihren Ehemännern eine Kanne kochendes Wasser ins Gesicht schütten, wenn sie schlafen. Danach benähmen sie sich bestimmt anständig“, so reden die Leute.
( ... )
Nur eine der elf Frauen, die ihre Ehemänner ermordeten, spricht nicht über ihr Motiv. Ich habe ihre Familie besucht. Ihre ältere Schwester zog mich zur Seite, leise sagte sie zu mir: „Sie brauchen sie nicht zu fragen, sie wird es Ihnen nicht sagen ...... Warum sie ihn getötet hat? An dem Tag, an dem es passierte, ist er nackt ins Schlafzimmer der beiden Töchter gegangen.“.
„Was?“
Die Schwester zupfte heftig an meinem Ärmel: „Pst, nicht so laut.“ Sie drehte sich um und zeigte auf die Schlafzimmertür. Der dunkelgrüne, wie ein Lotusblatt geformte Türknauf schien herausgerissen worden zu sein, er hing an nur einer Schraube baumelnd an der Tür. „Die hat er eingetreten, er hat mich ....“. Sie sprach nicht weiter.
Wenn nicht der Türknauf diese offensichtliche Zerstörung bezeugt hätte und nicht dieser Ausdruck von Verletztheit und Scham auf dem Gesicht der über 40 Jahre alten Frau gewesen wären, hätte ich nicht geglaubt, dass so etwas möglich sei.
Im Hof ragen über Hundert leere dunkelgrüne Flaschenhälse aus dem schmutzigen Schnee. Ein Beweis, dass es hier mal diesen Mann gegeben hat.
Die meisten Frauen haben in den siebziger Jahren geheiratet. Ohne Ausbildung und ohne besondere Fähigkeiten gab es für sie keine Möglichkeit an einen anderen Ort zu gehen, um zu arbeiten. Ihre Situation war ausweglos. Einmal hatte sich An Hua Hilfe suchend an den örtlichen Parteisekretär gewandt. Die Dorfbewohner handelten, sie fesselten ihren Mann an einen Baum und verprügelten ihn. Doch als er nach Hause kam, rächte er sich mit solch einer Brutalität, dass danach niemand mehr wagte sich einzumischen. Da das Büro beim Frauenverband ab 17 Uhr geschlossen war, blieb An Hua nichts anderes übrig, als sich in einem Toilettenhäuschen in der Nähe ihres Hauses zu verstecken und dort frierend die Nacht zu verbringen.
Häusliche Gewalt kommt überall auf der Welt vor, sie lässt sich nur schwer ausmerzen. Kein Eherecht garantiert, dass die Menschen glücklich werden, doch es sollte ein Eherecht geben, das extremes Unrecht verhindert.
Die Erfahrung zeigt, dass in den Ländern, in denen die Präventionsmaßnahmen ausgereifter sind und die Täter strenger bestraft werden, ein sofortiges Einschreiten nach dem ersten Übergriff in über 90% der Fälle einen erneuten verhindert. Die Polizei darf den Gewalttäter in Gewahrsam nehmen und bei besonderer Dringlichkeit können, im Falle einer Anzeige, richterliche Eilverfügungen zum Schutz des Opfers angeordnet werden. Verfügungen, wie das Verbot, dem Opfer Gewalt anzutun oder ihm Gewalt anzudrohen, das Verbot mit ihm in Kontakt zu treten, es zu verfolgen und zu belästigen oder das Verbot, sich der Wohnung des Opfers oder der anderen Familienmitglieder, dem Arbeitsplatz sowie allen anderen vom Opfer häufig besuchten Orten zu nähern, sollen dem Täter signalisieren: „Dein Verhalten akzeptiert die Gesellschaft nicht.“
Zur Zeit der Interviews konnte in China ein Mann noch immer seine Frau schlagen, ihr mit einem Beil die Hand abhacken, ihr mit einer Bierflasche ins Gesicht schlagen, ihr eine Pistole in den Rücken drücken, ihre Schwester vergewaltigen, die Kinder schlagen. Er konnte dies sogar vor aller Augen machen ohne bestraft zu werden – denn er war schließlich der Ehemann.
Der Mensch ist von Natur aus weder nur gut noch nur schlecht. Aber wenn man das Schlechte nicht im Zaum hält, nährt die Furcht anderer Menschen das Schlechte und das nagt an dem Guten im Menschen und ertränkt es im Alkohol.
In der letzten Nacht waren seine „dunkelroten Augen“ weit geöffnet, vielleicht hatte er es gerade noch geschafft mit dem Gesicht auszuweichen, doch es war ihm nicht mehr gelungen zu schreien, denn er stürzte in einen tiefen Abgrund: In nur einem kurzen Augenblick hatte sich die Gewalt ihres Körpers bemächtigt.
Jede sagte: „An diesem letzten Tag war er ganz anders als sonst.“
Xiao Dou erzählte: „An diesem Abend spürte ich, dass er erst aufhören würde, wenn ich tot bin.“
„Woher kam dieses Gefühl?“
„Weil er auf die Uhr gesehen hatte.“
„Was ist daran merkwürdig?“
„Ich hatte den Eindruck, dass er die Zeit abwartete. Ich weiß noch genau, wie spät es war. Es war zehn vor Fünf, kurz vorm Hellwerden, als er feststellte: ‚Gleich ist es Fünf.‘ Dann sagte er noch, ich könne entscheiden, ob ich mich selber umbringe oder ob er es tun solle.“
„Hast du dir seine Augen angeschaut?“
„Ja, habe ich. Er starrte vor sich hin, seine Augen waren dunkelrot, die ganze Nacht waren sie so.“
Sie wollte weglaufen und hatte schon die Tür geöffnet, um zu ihrer Mutter zu flüchten, als er ihr eine Messerklinge in den Rücken drückte und sie zurück ins Zimmer zerrte. Beherzt fragte sie: „Wenn ich tot bin, bist du dann zufrieden?“
Er antwortete: „Deine Schwester, deine Eltern und das Kind, ich werde alle erledigen.“
„Ich fasste es nicht, mein Leben allein genügte ihm nicht? Reichte es nicht, dass ich acht Jahre mit ihm zusammengelebt hatte? Ich nahm irgendeinen Stock und schlug ihn damit.“ Nur einmal, sie hatte nicht gewusst, dass sie so eine Kraft hatte. Nach dem Schlag war ihr nicht klar, dass sie ihn getötet hatte. „Ich wunderte mich, dass er blutete und wischte es noch weg.“
Nachdem sie ihn gesäubert hatte, hob sie den Kopf, schaute auf die Uhr und sagte zu dem auf dem Bett liegenden Mann: „Jetzt ist es fünf Uhr. Schlaf! Ich gehe zum Gericht und beantrage die Scheidung.“ Sie nahm ihr Kind auf den Arm und ging. Vor dem Gerichtsgebäude wurde sie festgenommen.
„Hast du dich in all den Jahren schon mal gewehrt?“ fragte ich sie.
„Nein, nie. Das war das erste und das letzte Mal.“
Die Schusswaffe, die Yan Qing nahm, gehörte ihrem Ehemann. Er arbeitete als Leibwächter in einem Kohlebergwerk.
Er spielte gern mit Schusswaffen. Einmal fielen ihm einige Patronen aus der Hand auf den Boden. Er nahm eine auf, lud die Schusswaffe und richtete den Waffenlauf auf sie. „Ich zähle laut bis drei und dann hebst du sie auf.“ Damals war sie im siebten oder achten Monat schwanger. Mit einer Hand auf dem Bauch beugte sie sich vor und sammelte die Patronen auf, die unter dem Sofa lagen. Er hob die Waffe und zielte auf ihren Rücken. Sie erzählt: „Ich dachte, er schießt bestimmt, und meinte jeden Moment den Schuss zu hören.“
Er wollte unbedingt einen Sohn. „Er erklärte, sein Chef habe keinen Sohn und da wir nicht so viel Geld hätten wie dieser, müssten wir einen Sohn bekommen, um ihn zu ärgern. Er gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass er das Kind töten werde, falls es ein Mädchen werde. Ich antwortete ihm, dass nur Tiere so etwas tun würden.“ Sie gebar eine Tochter. Am nächsten Tag „war es bis auf das Licht einer kleinen roten Glühbirne dunkel im Zimmer. Er sagte, dass ich ihm fünf Minuten geben solle. Er war in einer sehr merkwürdigen Verfassung.“
„In was für einer Verfassung war er?“
„Das kann ich nicht beschreiben. Ich hatte lediglich das Gefühl, dass mein Leben und das Leben meines Kindes bald zu Ende gehen würden. Und wirklich, er ging zu dem Kind. Ich zerrte ihn zurück, aber er stieß mich zur Seite. Ich sah, wie sich seine Hand dem Hals meines Kindes näherte, griff nach der Waffe, zielte, und schoss.“
Sie sagte, sie hätte unter diesen Umständen keine andere Wahl gehabt.
„Wie lautete das Urteil?“
„Lebenslänglich.“
„Lebenslänglich bedeutet dein ganzes Leben lang?“
„Für mein Kind würde es sich sogar lohnen zu sterben.“
Die Tochter von Xiao Dou ist jetzt 13 Jahre alt. Mutter und Tochter haben sich nicht mehr gesehen, seit sie vor dem Gerichtsgebäude getrennt wurden,. Xiao Dou hat nicht einmal Geld, um ihre Mutter im Gefängnis zu besuchen. Abgesehen von dem Foto auf dem Verhaftungsbefehl gibt es kein Bild von ihrer Mutter. Sie sagte, sie könne sich nicht an ihre Mutter erinnern.
Ich kniete mich vor sie hin, um mit ihr zu sprechen: „Ich habe deine Mutter getroffen, du siehst ihr sehr ähnlich."
Ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem spitzen Gesicht, sie schielte leicht. Sie war ein bisschen schüchtern, aber guter Dinge.
Die Oma gab mir die Hand des Kindes: „Ja, sie sehen sich sehr ähnlich. Dem armen Kind wird wirklich Unrecht getan. Schauen Sie, wie aufgerissen die Haut an ihren Händen ist, beide sind eiskalt, die eine blutet vor lauter Kälte. Für mich will ich gar nichts mehr, das Einzige, was ich mir noch wünsche, ist, dass sie bald nach Hause kommt und sich um das Kind kümmert und dass sie mich beerdigt, wenn es soweit ist. Ist das zu viel verlangt? Mehr will ich nicht.“
Ich wusste nicht, was ich sagen soll.
„Ist das zu viel verlangt?“ Sie legte ihre Hand zu der kleinen in meiner Hand und wog sie leicht hin und her.
Ich blieb hocken, wusste nicht, was ich antworten sollte.
Ihre Stimme zitterte immer stärker und mir war plötzlich unwohl zumute: „Regen Sie sich doch nicht auf!“
Noch bevor ich den Satz beendet hatte, fiel sie rückwärts vom Hocker.
Um uns herum wurden alle unruhig und unbewusst wollte ich den Mann zurückhalten, der versuchte, sie vom Boden hoch zu ziehen. Ich suchte in ihrer Jacke und fand ein Fläschchen mit Herztabletten für den Notfall. Ich steckte ihr fünf Pillen in den Mund, doch sie konnte nicht schlucken. Am schrecklichsten waren ihre Augen, in denen kein Funken Leben mehr steckte.
Ich kniete auf dem eiskalten Boden, stützte ihren steifen Körper und überlegte, ob sie tot ist.
Oh Gott!
Fünf Minuten später wachte sie wieder auf und wurde am Arm gestützt ins Haus geführt.
Die Enkelin blieb gelassen. „Das passiert meiner Oma häufig.“
„Und was machst du dann?“
„Ich hole die Nachbarn“, antwortete die Dreizehnjährige.
Die Männer sind tot, die Frauen haben ihre Freiheit verloren und zurück bleiben die Alten und die Kinder. Es ist eiskalt, sie haben nicht ein Stück Kohle zum Verfeuern, sie sind zu arm, um welche zu kaufen. Die Alten bleiben im Bett, wenn sie krank sind. Die Kinder wollen das Haus nicht verlassen, weil sie nicht gesehen werden wollen. Das Einzige, was wir tun konnten, war, ihnen zu ermöglichen, ihre Mütter im Gefängnis zu sehen, während wir dort den Fernsehbeitrag drehten.
Es hat sehr lange gedauert, bis wir An Huas Sohn fanden. Er ist neunzehn Jahre alt, treibt sich den ganzen Tag rum und erzählt niemandem, wo er schläft und was er isst. Es sind zwanzig Grad unter Null, doch er trägt keine Jacke, nur einen vergilbten dreckigen Pullover mit ausgefransten Ärmeln. Ungekämmt und ungewaschen sitzt er geistesabwesend auf der Stufe.
„Warum gehst du nicht nach Hause?“
„Zuhause muss ich an meine Mutter denken, bringen Sie sie mir doch zurück.“
Schon wieder dieser Satz.
Ich gehe mit den Kindern in den Besucherraum. Als die Kinder ihre Mutter in der Häftlingskleidung sehen, beginnen sie zu weinen. Wie kleine Kinder laufen sie ihr mit hochgereckten Köpfen entgegen: „ Mama, Mama.“
Eine Polizistin klopft an die Trennscheibe: „Setzt euch und benutzt das Telefon zum Unterhalten.“
„Mama, wir tuen alles, was du sagst, Hauptsache, du kommst bald nach Hause“, schluchzt die Tochter.
„Ja, das weiß ich und ich weiß auch, dass dein Bruder nichts zu sagen und zu machen wagt, weil er so verängstigt ist.“
Während der Sohn, das Gesicht in den Händen vergraben, hemmungslos weint, schreit die Tochter ins Telefon: „Mama, er sagt jeden Tag , dass er dich vermisst und nachts nicht schlafen kann und er dich suchen will.“
Die Mutter schlägt mit der Hand gegen die Trennscheibe: „Ach Kind, wo willst du mich denn suchen? Ich weiß, dass du mich vermisst. Ich vermisse dich doch auch.“
Der Sohn drückt die Stirn an die Scheibe: „Mama, nicht weinen.“
Die Mutter antwortet: „Egal wie schwer es ist, wir müssen es ertragen und durchhalten. Hast du mich verstanden?“
„Ja“, antwortet der Junge.
Die neben ihm stehende Polizistin wendet sich ab und wischt sich mit dem Ärmel ihrer Uniform über die Augen.
Jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, kann die Strafzeit dieser Frauen und anderer Gefangenen wegen guter Führung verkürzt werden, so dass ihnen noch einige Jahre bleiben würden, in denen sie ihre Kinder aufwachsen sähen?. Xiao Dou sagt, dass sie diesen Tag herbeisehnt, „aber leider gibt es ihn jedes Jahr nur ein Mal.“
Ich möchte auch die toten Männer verstehen. Aber die Alten in den Familien haben ihre Fotos verbrannt. Niemand spricht mit den Kindern über den von der Mutter getöteten Vater.
Ich frage ein Kind: „Denkst du manchmal an ihn?“
„Ja.“
„Und woran denkst du?“
„An sein Lachen ..., wenn er dich anlächelte, hatte man das Gefühl, dass er dir die ganze Welt schenkt.“
Die Narbe im Gesicht wurde ihr von ihrem Vater mit einem dreieckigen Eisenstück zugefügt. Sie liegt genau zwischen den Augen.
Ich habe den älteren Bruder von Xiao Dous Mann gefunden und ihn gefragt, ob er Fotos von seinem Bruder hat. Er seufzte, zog einen Besen hinter der Tür hervor, fegte mit ihm über einen Dachbalken und ein Ausweis flog herunter. Nachdem er mit einem Lappen den Staub abgewischt hatte, reichte er ihn mir mit feuchten Augen. „Hier. Acht Jahre ist es her. Ich hab`s nicht fertiggebracht, ihn wegzuwerfen. Aber sehen will ich ihn auch nicht mehr.“
Ich bin ziemlich überrascht. In diesem Gesicht ist nichts Brutales. Er sah sogar ganz gut aus und lächelte.
Ich frage An Huas Kind: „Weißt du warum dein Vater so häufig getrunken und Leute geschlagen hat?“
„Nein.“
„Gibt es irgendjemand, der ihn verstanden hat?“
„Keine Ahnung.“
„Meinst du, er kannte außer Gewalttätigkeit noch andere Möglichkeiten sich Menschen zu nähern?“
„Saufen.“
Sie gehörten zu den Ärmsten im Dorf. Fast alle waren Alkoholiker. Bei ihren Trinkgelagen schimpften sie über diejenigen im Dorf, die Geld hatten. Wenn sie nach den Gelagen nach Hause kamen, schlugen sie ihre Frauen und Kinder.“
Es gibt Leute, die sagen: „Solche Versager gibt es nur auf dem Land. In den Städten passiert so was nicht.“
(...)
„Was glauben Sie, wie sich Ihr Mann fühlte, wenn er gewalttätig war“ habe ich An Hua einmal gefragt und nahm an, sie würde sagen, „es befreite ihn.“
Doch stattdessen antwortete sie: „Ihn plagte immer das Gefühl der Verzweiflung.“
Und Xiao Dou erzählte: „Einmal fragte er mich beim Fernsehen, ob ich ihn lieben würde? Ich wollte von ihm wissen, was Liebe sei? Ich verstünde nichts davon und wisse es nicht. Daraufhin knallte er mir eine und fragte noch ein Mal, ob ich ihn denn nun lieben würde. Ich wusste wirklich nicht, was Liebe ist.“
Nach den Gewaltausbrüchen streichelten sie manchmal über die geschundenen Stellen und fragten: „Tut es sehr weh?“ Das waren Zeichen der Reue. Und die Frauen schöpften jahrelang immer wieder von Neuem Hoffnung. Doch beim nächsten Mal waren die Ausbrüche noch aggressiver.
„Ich weiß, dass er auch zu bedauern war“, räumt An Hua ein.
„Glauben Sie, dass er sich ändern wollte?“
„Ja, natürlich. Er hat einmal gesagt, er wolle auch nicht, dass so was geschieht. Aber er könne sich nicht beherrschen und wisse nicht, warum er andere verletzen müsse.“
„Darum war ich auch immer hin und her gerissen: Eigentlich wollte ich weg von ihm, aber ich schaffte es nicht, ihn zu verlassen.“
(...)
Wir sitzen bei minus 20 Grad in dem zugeschneiten Gefängnishof. Die Väter sind tot und die Mütter sitzen im Gefängnis. An Huas Tochter Xiao Mei sagt: „Auch wenn ein Mensch noch so hart ist, besitzt er doch tief in seinem Inneren eine Weichheit.“
„Meinst du, dass das bei deinem Vater auch so war? Sie überlegt und antwortet bedächtig: „Ja, nur dass er sie bei sich selbst nicht gefunden hatte.“
(...)
Die 16jährige Schwester von Xiao Mei bemerkt: „Ich vertraue keinem Mann mehr. Das Einzige, das die Männer kennen, ist Gewalt.“
Als der Bruder aus dem Besucherraum im Gefängnis kommt, bleibt er nicht stehen, sondern geht geradewegs weiter. Seine Schwester ruft hinter ihm her: „Bruder, Bruder.“
Doch er geht weiter, ohne sich umzudrehen. Keiner weiß, mit wem er zusammen ist, wo er schläft und was er isst. In jener Nacht half er der Mutter, den Vater zu fesseln. Als die Mutter mit dem Messer auf den Vater einstach, stand er daneben.“
Was wird aus ihm werden? Niemand weiß das.
Von einer Anwältin, die ich 2011 traf, erfuhr ich, wie es den von mir interviewten Gefangenen ergangen war. An Hua war Strafverkürzung gewährt worden. Nach ihrer Entlassung hat sie wieder geheiratet. Xiao Dou erkrankte während ihrer Haftzeit psychisch.
Die Gesellschaft für Rechtswissenschaften veröffentlichte im Jahr 2010 einen Entwurf zur „Prävention und Bekämpfung von Gewalt in der Familie“, in dem vorgeschlagen wird, für die Betroffenen Zufluchtstätten einzurichten und ein entsprechendes Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt zu erlassen. Dieser Entwurf ist bis heute nicht aus den Anfängen des Gesetzgebungsprozesses herausgekommen.
Aus: Chai Jing, Kanjian,Guilin (柴静看见,广西师范大学出版社) 2013, S. 97-
Übersetzung: Andrea Schwedler und Lei Wang